„Mama, ich kann nicht malen!“ Der Malort von Arno Stern

Warum manche Kinder diesen Satz sagen und warum unsere Kinder keine Ausmalbilder bekommen

"Mama, ich kann nicht malen!" Der Malort von Arno Stern
Versunken im Tun!

Unsere Kinder malen leidenschaftlich gern. Oft begeben sie sich direkt nach dem Aufstehen an unseren Wohnmobiltisch, schnappen sich ein leeres weißes Blatt und gut gespitzte Stifte und legen los. Dann entstehen bunte Spuren auf dem Papier. Frei, in Konzentration geschaffen und mit Liebe gemalt. Dieses Spiel kann einige Minuten dauern oder Stunden. Meist steckt der eine Junge den Anderen an und dann sitzen sie sich gegenüber und versinken in ihrem Tun. Ist das Spiel vollendet, ist es in der Regel so, dass sie Peter oder mich ansprechen und uns eine kurze Notiz zukommen lassen, was sie gemalt haben. Zum Beispiel:  Guck mal Mama, das ist ein LKW, der ist eine Millionen km/h schnell.

Ich wende mich dann dem Kind zu, schaue auf das Gemalte, ihm in die Augen und antworte mit einem kurzen, liebevollen und interessierten Ok oder Aha. Wir lächeln uns an und danach widmet sich mein Kind wieder seinem Blatt. Sein Bedürfnis nach Verbindung wurde befriedigt und das Gefühl, dass Mama oder/und Papa es gesehen haben, bestätigt. So passiert es oft mehrmals täglich. Die Jungs lieben es, zu malen und dürfen dieses innere Bedürfnis bei uns frei ausleben. Dabei achten wir auf ausschließlich weißes Papier, gespitzte Stifte, die wir Eltern gerne nachspitzen und einen ruhigen Platz. Das schließt jedoch nicht aus, dass wir unsere Arbeiten weiterführen, solange sie die Kinder nicht beeinträchtigen. Es kommt auch vor, dass wir das Malen auf später verschieben müssen, weil der Tisch für ein Essen benutzt werden muss.

So etwas wie Malbücher, vorgefertigte Blätter oder Malen nach Zahlen kommt bei uns nicht ins Haus. Auch gibt es in unserem Wohnmobil keine Schablonen oder Stempel, weil all diesen Dingen eins gemein ist: Sie verhindern das intrinsische (von innen heraus) Bedürfnis nach authentischem Ausdruck und stellen für uns stupides Beschäftigungsmaterial dar. Das klingt irgendwie komisch? Ich möchte dir sagen, warum wir dies so handhaben.

Meine Ausbildung im Malspiel bei Arno Stern im Malort

Im April 2014 absolvierte ich meine Ausbildung zur Malspieldienenden bei Arno Stern in Paris. Wer Arno nicht kennt, der sollte wissen, dass er ein Mann über 90 ist, der immer noch seiner Leidenschaft nachgeht.

Er ist der Erfinder des sogenannten Malorts, einem Raum, in dem alle vier Wände von oben bis unten ausgestattet sind mit Packpapier. Auf dieses Papier werden die weißen A3 Blätter gepinnt, welche zum Malspiel einladen. Auch ist es möglich, mehrere Blätter über- und nebeneinander zu hängen, um große Gebilde zu erschaffen.

In der Mitte des Raumes befindet sich ein Palettentisch mit kleinen Farbnäpfen, Wassernäpfen und jeweils drei Pinseln in unterschiedlicher Größe. Die Farben sind leuchtend schön und laden zum Benutzen ein.

Jede Woche kommt eine Gruppe Menschen in diesen Ort, von jung bis alt gemischt, und taucht für anderthalb Stunden ein, in das wunderbare Spiel mit den Farben. Im Malort gibt es Regeln, die jeder Malspielende einzuhalten hat und die eine klare Struktur und Ordnung geben. Beispielsweise ist es nicht gestattet, mit Pinseln herum zu kleckern, Wasserlinien auf dem Blatt zu verteilen, die Pinsel zu fest aufzudrücken, sodass die Haare beschädigt werden. Wünscht ein Malender einen anderen Farbton, wird dieser in einem kleinen Schälchen von Malspieldienenden angemischt und steht dann zur Verfügung.

Der Malort zeichnet sich nicht nur durch seine Ausstrahlung aus, sondern vor allem durch die Haltung von Arno bzw. dem Malspieldienenden. Denn, an diesem Ort darf sich jeder Mensch frei entfalten. Es gibt keine Vorgaben, keine Erwartungen oder Vorstellungen, geschweige denn Deutungen des Gemalten. Niemals sollte der Dienende auf die Idee kommen, einem Menschen zu sagen, was er anders malen sollte, ihm Vorschläge machen oder ihn gar korrigieren. Jede Pinselspur, die auf dem Blatt landet, ist nur für den Malenden gedacht und wird kommentarlos begleitet, indem der Dienende dafür sorgt, dass Jede/r die bestmögliche Atmosphäre zum Eintauchen findet.

Seine Aufgabe besteht unter anderem darin, dem Malenden die Reißnägel zu versetzen, damit auch an der alten Stelle Farbe aufs Papier gebracht werden kann, Farben anzumischen, Hocker unter die Füße zu stellen, denn die Wände sind hoch, bei Fragen zur Verfügung zu stehen und durch seine Ausstrahlung das klare Ja zu geben, an diesem Ort man Selbst zu sein.

Man kann sagen, der Malort ist das Gegenteil vom Kunstunterricht in der Schule oder der Kunsttherapie!

Des weiteren hat das Eintauchen in eine Tätigkeit wie das Malen (aber auch Improvisationstanz oder anderes) einen nachhaltigen Nutzen. Es ermöglicht hohe Konzentration, die Entfaltung der Kreativität und Phantasie, sich geborgen und angenommen zu fühlen und seinen eigenen Ausdruck zu wahren. Hier ist es möglich, alles fließen zu lassen und sich ohne Ablenkung zu vertiefen. Deswegen hat dieser Ort keine Fenster und es läuft keine Musik oder andere Ablenkung.

Ich durfte selber bei Arno malen und ich sage dir, es war höchster Genuss! Allerdings ist es auch ein Prozess, sich innerlich von Erwartungen Anderer zu lösen und sich wirklich frei zu fühlen. Natürlicherweise kommt jedes Geschöpf auf die Welt und möchte sich ausdrücken. Eine Ausdrucksform kann das Malen sein. Dabei ist es für den Malenden ganz allein wichtig, eine Malspur aufs Papier zu bringen. Beobachtet man Kinder, die sich ungestört hingeben dürfen, so erkennt man schnell, dass kein Kind auf die Idee kommen würde, einen anderen Menschen zu fragen, was da gemalt wurde, ob es schön aussieht oder ähnliches. Dieses Verhalten wird übrigens auch durch das gemischte Alter im Malort aufgelöst, denn sobald Kinder und Erwachsene zusammen sind, löst sich das, unter Kindern verbreitete, Vergleichen (meistens) auf.

Arnos Forschungsreise

Auch Arno hat dies belegt. Er machte sich vor vielen Jahrzehnten auf die Reise in fernste Länder um Menschen aus unberührten Gegenden malen zu lassen, die noch nie einen Pinsel oder ein Blatt in der Hand hielten und die unbeeinflusst waren. Fand er Kinder, die bereits in einer Schule waren, zog er unverrichteter Dinge weiter.

"Mama, ich kann nicht malen!" Der Malort von Arno Stern
18 leuchtende Farben laden zum Spielen ein

Seine Reise war erfolgreich. Es bestätigte sich, was er schon vorher beobachtet hatte: Lässt man einen kleinen Menschen von Beginn an frei malen und ist lediglich präsent als Mutter, Vater, Oma, Opa usw., dann gelingt es jedem Kind, in vollkommener Zufriedenheit Spuren auf dem Papier zu hinterlassen. Dann genehmigt man dem kleinen Menschen, allein durch seine präsente Anwesenheit, sich ohne Einschränkung auszudrücken. Fragen, ob der Schönheit oder gar des Nutzens werden nicht kommen, denn wie bereits in meinem Artikel übers Spielen beschrieben, ist jedes Kind ursprünglich in höchster Form mit seinem Tun zufrieden. Es kommt auf die Welt und wächst und lernt ohne Zutun in seinem eigenen Rhythmus.

Wir Erwachsenen haben gar kein Recht, uns einzumischen oder Ratschläge zu geben, solange das Kind von sich aus nicht fragt.

Nun ist es in der Realität oft so, dass die Kinder auch bei den Großeltern malen, im Kindergarten, im Unterricht in der Schule oder bei Freunden, die nichts davon wissen oder wissen wollen. Da kann es vorkommen, dass ein Erwachsener, oder auch ein anderes Kind, kommentiert oder gar in das Bild reinmalt, dass das Gemalte als Krikelkrakel abgetan wird oder der/die Anwesende den Wert nicht erkennt. Dass kleinste Kinder mit Strichen und Punkten in die großen Formen wie Dreieck oder Quadrat und später Häuser oder Boote hineinfinden, wissen die wenigsten. Sind die Anfänge des Malens deswegen weniger wert, als etwas, was wir meinen erkennen zu können? Ich finde Nein!

Leider passiert es wohl den meisten Kindern, dass sie unterbrochen werden in ihrem Spiel und deswegen irgendwann Sätze sagen wie:

Ich kann das noch nicht malen. Was ist das, was ich gemalt habe? Das sieht doof aus. Der Simon kann das viel besser als ich…..

Man kann sicher davon ausgehen, dass diese Kinder in irgendeiner Situation gestört wurden. Als Eltern rate ich dann dazu, dem Kind zuhause die Erlaubnis zu geben, dies (wieder) zu dürfen.

Wie du deinem Kind helfen kannst, sich frei auszudrücken

Setze dich dazu präsent zu deinem Kind, wenn es beginnt zu malen. Tue nichts, außer da zu sein (Kein Handy, kein Abwasch usw.), schaue ihm jedoch nicht über die Schultern, sondern gebe ihm das Gefühl, ansprechbar zu sein. Wenn dann eine oder eine ähnliche genannte Aussage kommt, dann kannst du ruhig und liebevoll je nach Situation antworten:

  • Alles ist gut, male ruhig weiter.
  • Ich kann dir nicht sagen, was du gemalt hast, denn das weißt nur du allein.
  • Du darfst hier so malen, wie es dir gut tut.
  • Das was xy gesagt hat, stimmt nicht. Jeder Mensch kann malen.
  • Im Kindergarten/bei Oma/bei xy ist es anders. Hier darfst du einfach malen und ich werde dich dabei nicht stören.
  • Ich bin jetzt da und du darfst dich auf dein Blatt konzentrieren (und nicht auf das, was xy gesagt hat).

Je nachdem, wie lange das Kind gestört wurde oder wie oft es noch gestört wird, kann der Prozess zu einem selbstzufriedenen Ausdruck von Seiten des Kindes, schneller gehen oder länger dauern. Bleibe geduldig, es wird sich lohnen. Optimal ist es selbstverständlich, wenn solche Situationen gar nicht mehr vorkommen.

Auf jeden Fall aber stellst du mit deiner Haltung eine Verbindung her, die dein Kind zu schätzen wissen wird. Es malt dann in deiner Anwesenheit für sich und nicht für jemand anderen. Ich rate auch dazu, Bilder deines Kindes nicht zu verschenken oder dein Kind nicht aufzufordern, für Andere etwas zu malen. Warum, sollte nun verständlich geworden sein.

Wertschätze alles von dem, wie sich dein Kind ausdrückt, nehme es einfach und fraglos an und genieße die wachsende Zufriedenheit!

Übrigens: Wenn wir eine Basis gefunden haben, werde ich einen eigenen Malort eröffnen. Mein Herz schlägt dafür.

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