Es ist ja so, kurz bevor wir Deutschland verlassen haben,
bin ich mit den Kindern und einer Vollmacht von Peter, zum Bürgeramt gewackelt und habe kurzerhand Jarek und mich aus Deutschland abgemeldet. Dieser Vorgang war kein reines Vergnügen sondern notwendig, um unseren neuen Lebensweg einzuschlagen, denn in Deutschland herrscht Schulpflicht! Schulanwesenheitspflicht sogar. Und das bedeutet, dass jedes schultaugliche Kind ab 6 Jahren, seine tägliche Zeit in einem Gebäude abzusitzen hat. Fünf Tage pro Woche, ausgenommen Feiertage, Ferien und schulinterne freie Tage. Es gibt in Deutschland keine einzige legale Möglichkeit (s)einem Kind einen anderen Bildungsweg zu ermöglichen. Damit hat Deutschland, mit Schweden zusammen, ein Alleinstellungsmerkmal, denn in jedem anderen europäischen Land findet man Alternativen.
Als wir uns bereits vor einigen Jahren mit dem Gedanken des Reisens beschäftigten, kam natürlich die Frage nach der Schule auch in uns auf. Allerdings war uns von Anfang an klar, dass ein Staat kein Gefängnis ist und es immer Möglichkeiten gibt, in gewisser Form auszusteigen. So wählten wir vor einigen Monaten den einzig möglichen Weg, um Jarek Schulfreiheit und Reisezeit zu ermöglichen. Dass das ganze auch Nachteile hat, war uns bewusst, jedoch wogen diese nicht die Vorteile dieses Schrittes auf. So stehen wir also hier, sind frei in der Bildung unseres Schulkindes und können ihn auf der Reise seines Lebens begleiten. Dabei ist es uns wichtig, auf seine Interessen einzugehen und feinfühlig mit ihm zu leben, um herauszukriegen, was ihn wann brennend interessiert und was „Eintagsfliegen“ sind.

Wir brauchen einen feinen Sinn für wichtige Unterstützung und um Jarek Freiraum (bsw. ohne Geschwister) zu schaffen, indem er ganz tief eintauchen kann in seine Interessen. Da kann es passieren, dass er stundenlang im Bett liegt und liest, dass er seiner Oma WhatsApp Nachrichten schreibt und zwischendurch wissen will, wie dieses oder jenes grammatikalisch korrekt ist, dass er sein Taschengeld mehrmals durchzählt oder über seine Träume siniert. Oft sitzt er am Tisch und malt seine Ideen auf, ganz präzise und mit unglaublicher Intensität. Oder aber, er bringt sich das Schwimmen selber bei, indem er täglich ins Becken springt und alles gibt. Gestern beispielsweise, hat er sich ein Buch mit mir zusammen gebastelt und Comics gezeichnet. Die will er dann verkaufen. So wie die erwachsenen Comiczeichner. Draußen baut er aus den verschiedensten Materialien Phantasiegebilde oder auch „Echtes“. Mit Anton sitzt er oft da und sie zählen zusammen bis 100(0)……
Es ist unglaublich vielfältig und wunderbar, die Entwicklungsschritte unseres Kindes mitzuerleben. Es macht mich froh und glücklich so nah dabei sein zu dürfen. Es ist ganz klar auch eine Herausforderung, denn ich bin selber anders groß geworden. Ich werde nie wissen, welcher Mensch ich wäre, wenn ich schulfrei aufgewachsen wäre und meine Eltern als primäre Ansprechpartner gehabt hätte statt der Lehrer. Wir als Eltern, Peter und ich, tragen die Verantwortung für das, was unsere Kinder in ihrem Leben lernen, sehen, kennen lernen usw. Wir sind viel zusammen und es findet ständig Kommunikation statt. Der Lehrer aus Jareks Schule sagte mir bei einem Gespräch, dass es ihm sehr positiv auffällt, wie Jarek sich äußert und in Kommunikation geht. Wir geben die Verantwortung für die Bildung unserer drei Kinder nicht an eine Institution ab, sondern nehmen sie selber an und ernst. Denn: Sind wir Eltern nicht die Experten für unsere Kinder? Wer, wenn nicht wir, will das beste für unsere Kinder? Und, ist Schule wirklich ein Garant für Erfolg? Wovor haben wir Angst ,wenn wir diese Form des Sich- bildens nicht zulassen können, verurteilen und/ oder ablehnen?
Sie wachsen im Mutterleib heran und kommunizieren bereits dort mit uns, werden intuitiv geboren, entwickeln sich ständig. Vom pinkeln, kacken, ersten Lächeln, vom drehen, robben, krabbeln und laufen über das selbstständige Erlernen der Muttersprache(n), geschieht die gesunde Entwicklung ganz von selbst. Wir müssen nichts hinzufügen, sondern da sein und Sicherheit geben. Warum sollte die selbstständige Entwicklung an der Seite der Eltern bzw. Bezugspersonen mit sechs Jahren auf einmal stoppen? Warum gibt es keine Schulen zum Erlernen von krabbeln und laufen? Und warum sollten Lehrpläne besser wissen was ein Kind lernen muss, als es selbst? Was ist mit Gaben und Talenten? Welcher Lehrplan berücksichtigt diese? Wer legt überhaupt fest, was ein Mensch können muss?
Die Hirnforschung hat bereits bewiesen, dass sich das Gehirn beim sogenannten intrinsischen Lernen anders entwickelt, als bei der Form wenn Kinder etwas bestimmtes lernen müssen. Es handelt sich dabei um Interessen -und begeisterungsgesteuertes Lernen. Darum, dem inneren Drang nachzugehen und ihn zu befriedigen. Und da jedes Baby neugierig, wissbegierig und weltoffen auf die Welt kommt, müssen wir nur schauen, dies nicht zu unterdrücken, indem wir versuchen, etwas in unsere Kinder hinein zu pressen was sie (noch) nicht wissen wollen.
Dass Jarek bereits vor der Schule fließend lesen und schreiben konnte und Anton ebenfalls auf dem besten Weg dahin ist, könnte in guter Hinweis dafür sein, dass sie tatsächlich wissen und können wollen, was wir und ihre Umwelt auch kann. Wir sind überall umgeben von Werbung, Zetteln, Verpackungen und Computern, sodass irgendwann, das von innen heraus spürbare Bedürfnis entsteht, die ganzen Zeichen selbstständig zusammensetzen zu können um den Sinn zu begreifen. Und diese Art des Lernens können wir auf jeden einzelnen Bereich des Lebens anwenden. Sei es das Lesen, rechnen, geografische Kenntnisse, klettern, schwimmen, Rad fahren usw. usf. Wenn du mal überlegst, was du alles in deinem Alltag gelernt hast weil du es wolltest, dann wird dir einfallen, dass zum Beispiel das Kochen eine Tätigkeit ist, die dir niemand in der Schule beigebracht hat. Auch der Umgang mit jüngeren und älteren in einer natürlichen Umgebung bringt dir niemand bei. Auf unserer Reise haben wir das große Glück, Menschen aller Altersklassen zu treffen. Unsere Kinder und auch wir, lernen angenehme und unangenehme, aufgeschlossene und zurückgezogene, liebevolle und ruppige Menschen kennen. Und wir alle lernen, damit umzugehen.

Auch unsere Kinder suchen sich zeitweilige andere Begleiter von denen sie lernen, und die ein anderes Wissen haben als wir Eltern. Denn, obwohl wir erfolgreich die Schule abgeschlossen haben, sind wir nicht allwissend. Vieles von dem was wir in der Schule lernen mussten, haben wir vergessen und verdrängt weil wir einfach kein Interesse daran hatten. Das jedoch, was unsere jetzt Kinder, lernen wird von ihrem Gehirn förmlich aufgesaugt weil sie es wissen wollen, weil sie begeistert davon sind. Das alles bleibt nachhaltig vorhanden.
Oft hören wir das Argument: Ja, aber sie müssen doch auch lernen, mit der Härte des Lebens zurecht zu kommen. Dass das Leben hart zu einem ist, glauben wir nicht mehr. Wir wissen um schwere Schicksale und tragische Lebensgeschichten und gleichzeitig schließe ich diese Art des Vorlebens hier bewusst aus, denn so etwas wird wohl hoffentlich niemand meinen, der mir die obige Frage stellt. Das Leben gibt auch uns immer wieder Herausforderungen, aber wer unsere letzten Berichte gelesen hat, der weiß, dass es nur eine Frage des Umgangs mit ihnen ist. Wir haben die Wahl, unser Leben zu genießen oder im großen und ganzen scheiße zu finden. Und wir haben auch die Wahl, welches Leben wir führen wollen. Dass es dabei Hürden gibt, ist das natürlichste der Welt. Dass unsere Kinder mit uns sind und das alles miterleben, stärkt sie in ihrem Vertrauen und der Sicherheit, dass für uns gesorgt ist, egal wie schwierig die Situation auch sein mag. Und dass jeder von uns, mal schlechte Laune hat und alles blöd ist, dass wir uns nerven und laut werden, das ist menschlich. Es geht uns nicht darum, unseren Kindern zu zeigen wie hart das Leben ist, es geht uns darum, ihnen die Sicherheit (mit)zugeben, dass sie harte Zeiten bewältigen können.
Ich möchte hier mal zwei Beispiele anbringen, die unterschiedlicher nicht sein könnten:
Wir stehen in Montalto Marina und neben uns unsere deutschen Nachbarn aus Kassel. Die beiden sind 60 und 80 Jahre alt und haben zwei Enkelkinder, die bereits recht früh mit zwei Jahren in die Fremdbetreuung gegeben wurden. Als sie erfahren, dass Jarek eigentlich in die Schule gehen müsste, sagen sie prompt: „Das finde ich toll mit dem schulfreien Weg. Er wird schon alles lernen, was er zum Leben braucht.“
Dann stehen wir in Brucoli auf Sizilien und die folgende Situation an einem Morgen hat mich dazu bewegt, diesen Text zu verfassen: Mein Spaziergang mit Jarek und Johannaa ist vorüber. Wir kommen wieder an unserem Platz an der Steilklippe an und laufen prompt an drei Deutschen vorbei, die ebenfalls ihr Wohnmobil hier geparkt haben. Zwei ältere Pärchen um die 65 Jahre, von denen der eine Mann jedoch gerade weg ist. Beim vorbeilaufen grüßen wir und werden daraufhin angesprochen, ob die Sonne nicht herrlich scheint? Ich bejahe und geselle mich zu den Dreien. Wir haben erst ein paar Sätze über unsere Herkunft gewechselt als sofort die Frage aus meiner Überschrift fällt. Da ich bereits am Ton Skepsis wahrgenommen hatte, beantworte ich die Frage mit einem knappen „Damit haben wir keine Probleme“ (was der Wahrheit entspricht). Jarek jedoch formuliert es eine Sekunde später konkreter und sagt „Nein, ich bin abgemeldet.“ Hach ja, Kinder sind herrlich ehrlich und direkt. Nun gut. Ich muss mich der Situation stellen.
Zuerst beginnt der Mann mir zu erzählen, was an dieser Entscheidung alles schlimm sei. Jarek werde niemals alles lernen, was in der Schule gelehrt wird, es ist irgendwann zu spät Kindern etwas beizubringen, weil sich dann das Gehirn verändert und sie nicht mehr so aufnahmefähig sind. Ich frage daraufhin vorsichtig was das denn wäre, was er niemals lernen wird. Physik zum Beispiel, ist seine Antwort. Ich könne ihm ruhig glauben. Er käme vom Fach (Oha!)! Im nächsten Satz jedoch sagt er, er wolle sich aber gar nicht einmischen und kehrt mir den Rücken zu.
Seine Frau beginnt zu reden und ich spüre, dass beide Frauen innerlich beben. Sie können offenbar kaum glauben, was sie da gehört haben. Nachdem seine Frau ebenfalls ihren Ballast abgelassen hat und ihre(!) Ängste ausgesprochen, übernimmt die dritte im Bunde das Wort. Jedoch richtet sie dieses nicht mehr an mich, sondern geht auf Jarek los. Und zwar mit Zynismus. Sie fragt ihn, ob er denn nicht irgendwann mal lesen lernen will? Ich hake ein und antworte ihr, dass er das bereits kann. Und Rechnen? fragt sie. Die andere Dame grätscht dazwischen und sagt, Ja, 1+1 wird er wohl lernen. Und der Mann sagt, es gehe im Leben nicht um Rechnen, sondern um Mathematik! Jarek sagt den dreien, er habe ja auch Schwimmen alleine gelernt, dann wird er auch Rechnen lernen wenn er möchte. Daraufhin entgegnet die Zynikerin, „Dann kannste ja auch deine Geschwister unterrichten, was?“
Ich beende das Gespräch indem ich den dreien einen schönen Tag wünsche und mit den Kindern Richtung Wohnmobil laufe.

Seit diesem Gespräch werden wir konsequent vom Physiker und seiner Frau ignoriert. Wir können damit sehr gut umgehen. Wir sind im Frieden mit unserer Entscheidung. Die Zynikerin jedoch kommt täglich zu uns an Wohnmobil und hat Redebedarf. Wir spüren, dass sie selber gemerkt hat, dass sie zu weit gegangen ist. Sie hat offensichtlich ein schlechtes Gewissen.
Im Prinzip ist unsere Idee vom Leben mit unbeschulten Kindern auch eine Lehre für uns. Naomi Aldort, eine bekannte Unschooling Mutter, hat es so treffend und einfühlsam zusammengefasst: You have to trust and wait! (Du musst vertrauen und warten!) Und dich ab und zu Menschen stellen, die offensichtlich wissen, was gut für andere ist und die meinen uns besser zu kennen als wir uns selbst. Soviel zu: Leben und leben lassen. (Nicht dass ich perfekt darin wäre)
Übrigens ist es selbstbestimmt lernenden Kinder nicht verwehrt Abschlüsse in Schulen zu machen. Bereits zahlreiche Jugendliche haben gezeigt, dass es geht. Dazu müssen sie sich nur an einer Schule zur externen Prüfung anmelden und dürfen vom Hauptschulabschluss über den Realschulabschluss bis hin zum Abitur alle Prüfungen absolvieren und haben dann das selbe Zeugnis wie in Schulen lernende Menschen.
8 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Schöner Artikel. Hinzufügen möchte ich, dass Menschen immer auch Fehler machen. Lehrer in der Schule sind Menschen, die Fehler machen. Eltern, die ihren Kindern die Unterstützung anbieten, um intinsisch und ohne staatliche oder private Schulen zu lernen, machen auch Fehler. Wer den Film Captain America gesehen hat, weiß was gemeint ist. Ich habe bereits viel miterlebt und gestaltet und muss sagen, dass das wichtigste zum Lernen stabile Beziehungen mit Menschen, die „down to earth“ sind, sind. Die Halt und Geborgenheit und genügend Freiraum zum wachsen und entwickeln im richtigen Moment anbieten können. Menschen, die Antworten haben und im richtigen Moment schweigen können um die Antworten selber finden zu lassen. Menschen, die andere sehen können wie sie sind nicht daran interessiert sind, wie andere sein sollten um zu funktionieren. Und dann muss ich hier sagen, dass ich diese Menschen überall finden kann, wenn ich in Resonanz damit bin. In jedem System und jedem Land. Das ist meine Erfahrung. ❤
Hallo Sunji,danke für deine Ergänzung. Damit hast du vollkommen Recht und jede Familie muss schauen, welcher der beste eigene Weg ist! LG
Hallo!
Ich finde es irgendwie eine Frechheit, wie sich die Leute in euer Leben einmischen. Andererseits spricht aus ihnen vermutlich wirklich nur ihre eigene Angst. Daher ist es eigentlich einfach nur traurig. HM…
Ich finde euren Weg auf jeden Fall toll, bin ein wenig neidisch und wünsche euch weiterhin alles Gute auf eurer Reise!!!
Liebe Grüße Sophie
Hallo Sophie, tja, da kommen tatsächlich eigene Ängste hoch und interessanterweise hat die Zynikerin mir am nächsten Tag gesagt, dass sie auch gerne mit ihren Kindern gereist wäre. Also auch Neid war im Spiel. LG
Ich musste gerade so lachen bei Deiner Beschreibung des Zusammentreffens mit dem Physiker und seiner Frau 🙂 . Wir sind auch immer wieder mal mit dem WoMo unterwegs, mit drei Teenies und treffen hauptsächlich – Rentner. Ich habe bisher immer versucht, mich mehr oder weniger elegant um so Gespräche herumzuwurschteln (zumal bei uns die Option, dass die Kiddies evtl. noch nicht zur Schule gehen müssen, aufgrund ihres Alters deutlich wegfällt). Komme eines schönen sonnigen Morgens vom Hundegang zurück zum WoMo und sehe meine drei Kids, barfuß auf unserem Stellplatz hinter einem prunkvollen Theaterbau in Bad Helmstedt in ein angeregtes Gespräch mit einem älteren Paar vertieft. „Oha!“ , denke ich, „Soll ich schnell hin oder sie einfach machen lassen?!“ Entscheide mich für zweiteres, sehe nach ein paar Minuten das Paar nach einer freundichen Verabschiedung mit ihrem PKW wieder abfahren und quetsche gleich mal die Kids aus. Die hatten auf „die gewisse Nachfrage hin“ einfach freiweg erzählt, dass sie nicht mehr zur Schule gehen, sondern einfach leben und lernen, in Deutschland und auf Reisen, mal ein Praktikum machen, viel mit dem PC machen und wir gerade vom Schulfrei-Festival kommen. Immerhin mussten sie keine harsche Kritik einstecken, sondern begegneten wohl etwas ungläubigen, aber auch interessierten Fragen und zum Abschied guten Wünschen für ihre Zukunft 🙂
Hallo Anja, danke für die schöne Geschichte. Die Kinder können so kompetent sein- super! LG
Liebe Katharina,
herzlichen Dank für diesen wundervollen Bericht. Ja, Kinder brauchen keine `geregelte´ Schule sondern nur den Raum und den Rückhalt von uns, sich frei und ungezwungen nach ihren eigenen innersten Interessen zu entfalten… ganz natürlich und geschützt.
Das ist auch mein Thema für das ich `arbeite´.
Alles Liebe, Monika Anasha
Liebe Monika,
danke für deine Zeilen. Das sehen wir genauso. Ich schaue mir jetzt mal deine Webseite an. Der Titel ist jedenfalls toll! Liebe Grüße, Katharina