Wir werden verfolgt.
Momentan sitze ich hier in italienischen Brucoli direkt an der Steilklippe und versuche, mich zu konzentrieren. Es gibt zwei Gründe, warum es mir nur schwer gelingt. Der erste ist, dass sich am Wochenende hier auf dem großen Platz sehr viele Wohnmobile versammeln und hauptsächlich Italiener in ihnen sitzen. Und wenn sie dann aussteigen und sich unterhalten, ist es niemandem möglich, in Ruhe weiter zu arbeiten, denn Italiener sind von Natur aus laut. Allerdings mag ich den Klang der Sprache sehr und verstehe manches.

Der zweite Grund ist, ihr werdet es nicht glauben, eine Taube. Wir haben sie Annemarie getauft und leider hat sie sich in den letzten Tagen an uns gewöhnt und entpuppt sich als äußerst aufdringlich. Jeden Morgen um sieben Uhr tapst sie über unser Wohnmobildach, schaut durchs geöffnete Dachfenster hinein und wartet anschließend so lange vor unserer Türe, bis wir rauskommen. Ich habe keine Ahnung, was in so einem Tier vor sich geht und wie das unter Tauben so mit Bindungsproblemen ist, Fakt ist aber: Sie mag uns offensichtlich und das mehr, als wir sie. Angefangen hat es vor einigen Tagen. Da saß sie den ganzen Tag lang neben uns auf der Wiese, total zutraulich und friedlich. Ich fand das echt amüsant und irgendwie niedlich. Zwar kenne ich die Stadttauben aus Leipzig, aber so eine war mir noch nie begegnet.
Da wir die Sonne auch in unser Womo scheinen lassen wollen, haben wir die Türe immer geöffnet wenn wir draußen sitzen. Bis vorgestern! Denn Annemarie ist scheinbar ein Exemplar, welches frei nach dem Motto Gibst du den kleinen Finger, nimmt sie sich die ganze Hand handelt. Mit einem Flügelschlag saß das Vieh in unserem Wohnmobil und war nicht mehr ins Freie zu kriegen. Statt sich von uns rausscheuchen zu lassen, denn wir stehen nicht auf eventuelle Krankheitsüberträger und Gefieder im Womo, lief das Taubentier einfach gemütlich vor uns weg in eine andere Ecke. Unglaublich! Mittlerer weile fühle ich mich echt gestört und gestalkt. Peter und ich haben schon gedacht, ob sie vielleicht ein Roboter ist, der uns auskundschaften soll. Als sie dann das erste Mal auf unser Handtuch geschissen hatte, waren wir uns aber sicher, dass sie doch echt sein müsse.
Sie steht also seit vorgestern den ganzen Tag vor, auf oder an unserem Womo und wartet den richtigen Moment ab, um herein zu fliegen. Eben trieb sie es sogar so weit, dass sie durch den kleinen Spalt des geöffneten Küchenfensters versuchte, rein zu kommen. Es gelang ihr sogar, ich hab mich wahnsinnig erschrocken und Peter musste sie raus drücken. Meine Güte, wie wird man die wieder los? Täglich brülle ich gefühlte 100 Male Tür zu, Annemarie! und fordere damit die Jungs und Peter auf, dem Tier keine Möglichkeit zu geben, hinein zu kommen, denn nachdem sie sich auf unser Bett gesetzt hatte und ich alles abziehen musste, war meine Grenze erreicht.
Ich versuche nun, mich nicht auf die Taube zu konzentrieren. Sie macht ja eh, was sie will…
Knüpfen wir an den letzten Bericht an. In Avola angekommen, entschieden wir uns, eine Weile dort zu stehen. Der große Parkplatz lud zum Lauf-Rad fahren ein und der Strand befand sich direkt hinter der zu überquerenden Straße. Fast täglich begaben sich die Kinder ans Meer und auch Peter und ich genossen den warmen Sand, die Ruhe und die Weite! Mit dem Arbeiten wechselten wir uns ab und fanden so eine gute und wohltuende Routine. Nach langer Zeit fühlten wir, dass ein Ort zum Verweilen wichtig ist und Avola eignete sich gut dafür.
Im Laufe der Tage fanden sich immer mal für kurze Zeit andere Wohnmobile ein, aber geblieben sind nur Iris und Robert. Die beiden kommen auch aus Deutschland und fanden uns wohl gleich sympathisch. Nach einem Tag stellten sie ihr Wohnmobil neben unseres, denn unsere Kinder hatten mal wieder ihre Freude mit Älteren, die ihre Sprache sprechen. Ganz anders lebend als wir, beide Kettenraucher und mit viel Alkohol im Gepäck, merkte ich schnell, dass sich unsere Kinder absolut wertfrei mit ihnen umgaben. Genau so schnell merkte ich auch, dass ich mir sofort eine Meinung bildete. Als mir das klar wurde, konnte ich mein Denken jedoch in eine andere Richtung bringen und ich öffnete mich den Unbekannten.
Zwar fand ich auch im Laufe der Tage einige Sachen ganz schön befremdlich, wie zum Beispiel Bier zum Frühstück oder einen fast ausschließlich mit Fleisch gefüllten Kühlschrank, spürte aber, dass die Jungs mit ihnen auf eine Art und Weise umgingen, die mich faszinierte.
Sie störten sich nicht an all diesen Dingen, sondern sie erfreuten sich über das gemeinsame angeln gehen, das Spiele spielen, endlich mal wieder fern zu sehen und ihre Aufmerksamkeit. Abends verabredeten sie sich bereits für den nächsten Tag und nach dem Frühstück spielten sie zusammen und Iris zeigte wahre Ausdauer im Mensch-ärgere-dich-nicht und UNO spielen.
Es kam der Tag, an dem wir unsere Weiterreise antraten, um in Kürze unsere Gäste zu empfangen. Nachdem wir Wäsche gewaschen hatten, unser Gas aufgefüllt und abends mal wieder ziemlich erschöpft Brucoli erreichten, legten wir uns in unsere Bettchen und freuten uns auf den nächsten Tag. Am Mittag erreichten wir den Flughafen von

Catania und fanden sogar einen tauglichen Parkplatz für unser Wohnmobil. Als wir der Straße Richtung Arrivi (Ankunft) folgten, spürte ich in jeder meiner Zelle große Aufregung. Ich konnte gar nicht genau sagen, warum, ließ dieses Gefühl jedoch einfach da sein.
Nun standen wir da, vor der großen automatischen Türe und ständig kamen die Passagiere des Flugs unserer Gäste heraus. Ich fragte mich, wer hier wohl auf wen wartete, beobachtete vor Freude weinende Menschen, Andere, für die das Abholen wohl das normalste der Welt war und einen jungen Mann, welcher vor Aufregung und evtl. auch Unsicherheit schwitzte. Er stand ungefähr zwei Meter neben mir und biss immer wieder auf seinen Fingernägeln herum, während er in der anderen Hand einen riesengroßen Blumenstrauß aus Rosen hielt. Ich fühlte mit ihm. Würde doch bald seine Liebste aus der Türe kommen und er ihr die Blumen überreichen. Wie aufregend!
Abgelenkt wurde ich durch unsere Gäste, die endlich aus der Türe kamen und nach über drei Monaten konnten wir uns mal wieder real in die Augen schauen und uns begrüßen. Welch Freude! Sowohl meine Mutter, als auch meine Brüder, sahen aus wie Leichen. Während wir bereits sonnengebräunt in leichten Pullovern herum liefen, kamen sie aus -7 Grad mit Daunenjacken auf Sizilien an. Ich machte mich kurz darüber lustig und merkte im selben Moment, dass die Einheimischen ebenso warm gekleidet waren wie unsere Gäste. Das wiederum war mir schon länger aufgefallen und ich musste schmunzeln.
Nachdem meine Familie sich ihr Mietauto besorgt hatte, wir im Einkaufszentrum einen riesigen Wagen mit Essen gefüllt -und Pizza gegessen hatten, trennten sich unsere Wege und wir fuhren an unseren Platz in Brucoli zurück, um auf den nächsten Morgen zu warten. Netterweise konnten sich auch meine Brüder dazu durchringen, etwas vor ihrer Zeit aufzustehen und so sahen wir uns zum Frühstück bereits wieder.
Die nächsten Tage verbrachten wir draußen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Drei die Kälte aus Deutschland mitgebracht hatten. Es war wesentlich kälter als die Tage zuvor, aber Gott sei Dank, immer noch warm genug, um draußen zu essen und zu sitzen. Bis auf die Abendmahlzeiten verteilten wir uns vor unserem Wohnmobil auf Stühlen und Decken um zu essen. Zu acht an einem derart kleinen Tisch zu sitzen, brachte am ersten Abend das reine Chaos, wurde dann aber immer geübter und ich fand es bald sogar recht gemütlich. Wir gingen Eis essen, besuchten den Spielplatz, meine Brüder angelten mit den Jungs und wir waren viel im Gespräch über alles, was uns bewegte.
Es war eine schöne, intensive Zeit und zumindest meine Mutter und ich, hätten sie gerne noch verlängert. Nach fünf Tagen jedoch verabschiedeten wir uns voneinander und kehrten zu unserer Routine zurück. Heute sind wir seit einer Woche wieder unter uns und arbeiten regelmäßig. Eigentlich wollten wir schon längst weiter Richtung Palermo fahren, doch irgend etwas hält uns hier auf dem Platz. Wir haben hier, abgesehen von Annemarie, alles, was wir brauchen. In dem kleinen Dörfchen gibt es Wasser fürs Wohnmobil, Gas, einen Gemüsemann, einen kleinen Laden, sogar eine Pizzeria und eine Poststation.
Ich sitze hier neben dem Wohnmobil, direkt in einer bunten Blumenwiese und jede halbe Stunde läutet die Kirchturmglocke. Das erinnert mich fast ein wenig an mein Heimatdörfchen. Ich bin eben kein Stadtmensch. Bunte Schmetterlinge fliegen durch die Wiesen, die Jungs gehen alleine auf den Dorfspielplatz und spielen Fußball mit den Kindern, Jarek sitzt am Tisch und lernt italienisch, wir haben einen mini Strandabschnitt zum Baden und ich sehe aus wie eine russische Oma, denn die Sonne brennt dermaßen heiß auf meine Haut, sodass ich mir ein Kopftuch auf den Kopf gelegt habe.
Unser Plan, wie es weiter geht, steht. Und momentan kann ich mich noch nicht so richtig entscheiden, ob ich Lust auf Leipzig habe oder nicht. Mein Bedürfnis nach Ruhe wurde durch diese wunderbare Reise so geprägt, der weite Blick über die Landschaft tut mir so unglaublich gut und jedes Mal, wenn wir Städte zum Waschen oder Einkaufen anfahren, bekomme ich einen unwillkürlichen Fluchtdrang. Vielleicht hat mich meine Kindheit doch stärker geprägt als ich es annahm. Vielleicht gibt mir das reizarme Leben eine innere Ruhe und Gelassenheit. Auf jeden Fall aber, fühle ich mich hier sauwohl und in diesem Moment möchte ich nur hier sein: Auf der Blumenwiese in Brucoli. Weit entfernt vom kalten Deutschland, zusammen mit meiner Familie und im Einklang mit der Natur! Annemarie hat mich wohl auch erhört und ist weit und breit nicht mehr zu sehen!